Automatiserung – wo bleibt der Mensch?

Niemand darf vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden

Sibel Arslan, Nationalrätin

Der demographische Wandel der Schweiz schreitet kontinuierlich voran. Heute sind bereits 1.63 Millionen oder 18.8% der Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz 65-jährig oder älter (Bundesamt für Statistik, Zahlen von 2020). Das ist durchaus erfreulich. Allerdings fragt sich, ob die derzeitigen Entwicklungen in der Schweiz dieser Tatsache Rechnung tragen. Ich bezweifle dies. Die an sich notwendige Digitalisierung ist zu einem Hype geworden. Ihr hat sich fast alles unterzuordnen. Auch und gerade im Service Public. Dabei wird der Anschein erweckt, die Digitalisierungswelle bringe nur Gewinnerinnen und Gewinner mit sich. Diese Schlussfolgerung ist falsch. Was als Digitalisierungsgewinn dargestellt wird, mag sich zwar positiv auf die Finanzen der SBB auswirken, für die Kunden bedeutet diese Entwicklung aber einen massiven Leistungsabbau. Insbesondere für viele ältere Fahrgäste und Menschen, die im Umgang mit dem Smartphone und Billetautomaten beeinträchtigt sind, ist die neue Stossrichtung der SBB diskriminierend. (Ich habe den Bundesrat in einer Interpellation aufgefordert, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten).

Der Leistungsabbau bei den SBB ist drastisch: Seit 2002 wurde die Anzahl Bahnhöfe mit eigenem Schalter um 53 Prozent reduziert. An vielen Bahnhöfen sind die Schalter am Wochenende geschlossen. Die Wartezeiten an den Schaltern sind zu Stosszeiten sehr lang. Zudem werden Schalterkundinnen und Kunden vom SBB-Personal dazu angehalten, die Automaten anstelle der Schalter zu nutzen. Automaten sind aber wenig kundenfreundlich: zB. Sparbillette können nicht am Automaten gelöst werden.

Der Zwang zur Nutzung digitaler Kanäle ist für Fahrgäste, deren Leben sich nicht digital abspielt, eine Herausforderung. Doch auch digital-versierte Kundinnen und Kunden werden oftmals lieber am Schalter bedient, gerade, wenn sie noch eine Beratung benötigen. Der Abbau der «klassischen Kanäle» ist deshalb nichts anderes als eine Diskriminierung eines Kundensegmentes. Für eine Staatsbahn ein absolutes No-Go.

Nicht viel besser sieht es im Umgang mit anderen staatlichen Institutionen und Ämtern aus. Auch da sollen die Dienstleistungssuchenden gezwungen werden, ihr Anliegen auf einem elektronischen Formular mitzuteilen oder ihre Bestellung digital vorzunehmen. Schalterstunden, die früher eine Selbstverständlichkeit waren, werden immer mehr eingeschränkt oder fallen ganz weg. Ein markantes Beispiel ist die Post. Doch Menschen sind keine Automaten. Sie sind sich gewohnt, sich verbal auszutauschen und den menschlichen Kontakt zu pflegen. Diese Kultur muss wiederhergestellt werden. Ein Abbau des Service Public zur vermeintlichen Kostensenkung kommt nicht in Frage. Der Direktkontakt ist für das Wohlbefinden des Menschen essenziell. Das darf durchaus etwas kosten.